Navid Kermani, freier Autor aus Köln, berichtet in seinem 2018 erschienenen Reisetagebuch „Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan“ von seinen Erlebnissen während seiner Recherchereisen, die ihn 2016/17 im Auftrag des deutschen Nachrichtenmagazins Der Spiegel nach Osteuropa und in den Nahen Osten führten. In Belarus führte ihn seine Reise auch an der Gedenkstätte in Azaryčy vorbei. Sein anschließender Bericht über diese Begegnung zeigt, wie die Gedenkstätte mittlerweile in den Alltag der Bevölkerung vor Ort integriert ist. Zugleich offenbart der abschließende Satz, wie schwer es für Nachkriegsgenerationen ist, zu verstehen, was unter der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg geschah:
„Auf dem Rückweg biegen wir an einem der Schilder ab, die auf eine Gedenkstätte verweisen: Das Lager von Osaritschi existierte nur eine Woche und bestand aus nichts als einem sumpfigen Wald, der mit einem Stacheldrahtzaun, Wachtürmen und Minen abgesperrt war. Auf dem kleinen Parkplatz steht ein Auto mit weit geöffneten Türen und laut aufgedrehtem Techno […]. Als wir daneben parken, schleicht ein Liebespaar aus dem Gebüsch, schaltet die Musik aus und fährt mit schüchternen Minen davon. Ein paar Meter hinter dem Denkmal, an das bunte Plastikkränze gelehnt sind, ist noch der Zaun zu sehen und hinterm Zaun der Sumpf, in dem die Wehrmacht bei ihrem Rückzug siebzigtausend Menschen zusammenpferchte, die nicht für den Arbeitsdienst taugten, also vor allem Alte, Kranke und Kinder – ohne Unterschlupf, ohne sanitäre Anlagen, ohne Essen und nur mit Schnee als Trinkwasser. […] Ich versuche mir vorzustellen, was sich zwischen dem 12. und 17. März 1944 hinter dem Zaun ereignete, aber sehe nur den Sumpf.“1
- Kermani, Navid: Entlang der Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan, München 2018, S. 82f. ↩︎